Fremde Tische
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Betteln und dürsten – hoch über Locarno

ritrovo eingangManchmal winkt das Schicksal mit dem Zaunpfahl – das kann sich durchaus in Form von schlechtem Wetter äussern.

Als wir im Herbst vor zwei Jahren beschlossen, das Grotto al Ritrovo im Val Resa, hoch über Brione s/Minusio aufzusuchen, regnete es. Tagsüber nur ein wenig, aber als wir spontan Richtung Val Resa aufbrachen, öffnete der Himmel die Schleusen und es nahte ein Gewitter. Unmittelbar vor dem Restaurant kam uns ein Auto entgegen. Gabriela, die Besitzerin, teilte uns beim Betreten des Grotto mit, dass der Koch soeben nach Hause gefahren sei. Im Gewitter, das das ganze Locarnese für einige Stunden lahm legte, fuhren wir zurück und stillten unseren Hunger daraufhin im „Centovalli“ in Ponte Brolla, bei Kerzen- und Taschenlampenlicht. Aber das ist eine andere Geschichte.

23 Monate später beschliessen wir, vorher unbedingt zu reservieren und freuen uns auf einen gemütlichen Abend bei köstlichem Essen. Ganz so, wie es Ti saluto Ticino in ihren Berichten beschrieben hat. Die Homepage verspricht, dass das Grotto täglich geöffnet ist. Sonntags für Montag Abend reservieren, so lautet unsere Devise. Herr Himmelsbach, der neue Besitzer, erklärt mir, dass am Montag und Dienstag geschlossen sei. Wir müssten heute noch vorbeikommen… Gut, dann spontan geplant in zwei Stunden.

Es regnet mal wieder, wie schon die ganze Woche. Vier Tische sind besetzt, einer davon mit einer fünfköpfigen Familie, die soeben am Bestellen ist. Der Kellner bequemt sich nach einer Weile, uns zu begrüssen und weist uns im hinteren Teil zwei Tische zur freien Wahl zu. Herr Himmelsbach erklärt uns danach sofort klipp und klar, dass der Tisch unserer Wahl bereits reserviert sei. Aha, dann halt der andere. Übrigens wir hätten uns gefreut, wenn wir begrüsst worden wären.
Setzen, warten.
„Wünschen sie etwas zu trinken?“
„Ja, gerne.“
„Was?“
„Ja, was haben Sie denn?“
„Prosecco?“
„Nein, danke.“
„Etwas anderes?“
„Ja, gerne.“
„Was?“
„Was haben Sie denn?“
„Was möchten Sie denn gerne?“
Wir hätten das Spiel wohl noch eine Weile fortsetzen können…
Madame entschied: „Ein Glas Weisswein vielleicht?“
„Gut.“ Der Kellner entschwindet. Wir warten.
Irgendwann kommt er zurück, stellt zwei Gläser Weisswein auf den Tisch und wendet sich ab.
„Ähm, Entschuldigung, was bekommen wir hier zu trinken?“
„Fiore“
„Aha, von wo? Ihr Hauswein? Oder?“
„Der ist gut, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“
„Danke, das ist nicht nötig.“
Wir trinken die Gläschen aus und warten – der gute Mann hätte sich die Hände verbrannt.

Und dann: Auftritt André Himmelsbach mit der Menütafel auf dem Stuhl: „So, unser Angebot!“ und weg ist er. Ein ca 15-jährige Junge am Nebentisch hätte gerne nach dem Salat einen Teller Spätzle, muss dann aber etwas anderes wählen. Herr Himmelsbach erklärt, dass sei zu wenig. Einiges auf der Tafel gelüstet uns, anderes empfinden wir nicht gerade als saisongerecht, so beispielsweise das Vitello tonnato. Warten. Der Durst wird grösser.

Ach, da kommt er ja, der Chef: „Ja?!“ Sein fragender Blick ist gleichzeitig erwartungsvoll. „Für mich das Hirsch-Entrecôte. Ist das wie im Menü mit Spätzle, Rotkra-“ „Spätzle gibt es nicht mehr!“ „Aha, was gibt es dann dazu?“ „Tagliatelle“, „Ok, dann bitte zwei Mal“. „Gut“ und weg ist er. Warten. Die Haut am Rücken spannt – es ist trocken.

Die Familie am Nebentisch hat die Salate erhalten, die Teenies haben Durst. Einer der Jungs bringt die leere Karaffe zur Theke, kommt mit leeren Händen zurück. Die hungrigen Blicke sagen alles – wir flüchten vor die Tür, um etwas Feuchtigkeit aufzunehmen und ein Rauchopfer darzubringen. Der Chef stürmt wortlos aus dem Haus und fährt mit dem Auto weg. Sollen wir auch?
Wir zwingen uns zur Rückkehr an den Tisch und warten – vielleicht nützen durstige Blicke oder ein Winken? Es kommt niemand in den hinteren Teil. Die Familie am Nebentisch hungert – Eltern von Teenies wissen, wovon ich schreibe.

Der Chef stürmt zurück ins Lokal, verschwindet und erscheint kurz darauf wieder, diesmal mit der Weinkarte, die er uns wortlos auf den Tisch legt. Sofort wählen wir und warten. Die Familie am Nebentisch schickt die Teenies auf eine Runde in den vorderen Teil des Lokals. Der hochmotivierte Kellner kommt an unseren Tisch und – entschuldigt sich. Es sei etwas lange gegangen. „Wir trinken vom Tamborini-Merlot, Vallombrosa, einen halben Liter, bitte.“
„Gut“, er wendet sich ab. Der Göttergatte schickt einen Hilferuf: „Bitte, noch etwas Wasser!“ Der bettelnde Blick verfehlt seine Wirkung nicht und der Kellner fragt sogar, ob einen oder einen halben Liter. Warten.

Dann geht alles erschreckend schnell: Wir erhalten den Wein, das Wasser und kurz darauf erscheint der Chef mit zwei Tellern, stellt sich an unseren Tisch und fragt: „Hirschentrecôte – mit Tagliatelle?“ „Ja, Sie haben ja keine Spätzle mehr, oder?“ „Genau!“. Er stellt die Teller auf den Tisch und trollt sich. Übrigens, ich hätte mich gefreut, wenn man mir ein „Buon appetito“ oder ein „Guten Appetit“ hingeworfen hätte.

ritrovo essen

Hirschentrecôte mit Nudeln und Rotkraut

Der Teller ist knapp lauwarm. Was eine halbe Cherrytomate als Dekoration auf einem Wildteller verloren hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Das Fleisch ist gut und der Fleischjus sehr gut, der Rotkohl nicht schlecht, die Fabriknudeln richtig al dente. Die Kastanien sind leider kalt und eher geschmacklos. Das Brot im Brotkörbchen ist übrigens ein Aufbackbaguette.

Die zwei Jungs schleichen an unserem Tisch vorbei, lüsterne Blicke auf unsere Teller werfend und sind völlig überrumpelt, als dann doch noch etwas Essbares aufgetischt wird. Wir sind in der Zwischenzeit fast fertig mit unserem Mahl und beschliessen, den Nachtisch ausfallen zu lassen. Zumal wir sehen, dass an einem anderen Nebentisch ein Uva Americana-Sorbet serviert wird, dass mit Rahm angereichert ist, nicht drauf – drin. Wir mögen die Sorbets eher ohne Rahm…
Der Kaffee wird prompt serviert und die Rechnung bringt der Chef gleich selber. Am neu besetzten Nebentisch findet er sogar Zeit, einige Erklärungen zur Menütafel abzugeben. Wir sind erstaunt. Trotzdem, erstmals, seit langer, langer Zeit beschliessen wir, das Trinkgeld einfach zu streichen.

Als wir das Lokal verlassen – es schüttet inzwischen aus Kübeln – wirft uns André Himmelsbach noch ein „Herzlichen Dank für den Besuch!“ nach. Jetzt staunen wir schon zum zweiten Mal.

Fazit:
Wir mögen es nicht, wenn wir als Gäste betteln sollen – schon gar nicht, wenn wir recht ordentliche Preise bezahlen. Trotzdem, wir kommen wieder. Aber nicht, weil wir eine zweite Chance geben wollen. Nein, weil wir wissen möchten, wie es hier oben bei sonnigem, trockenem Wetter ist; an einem der Steintische im schönen Garten. Und wie die Aussicht tagsüber ist. Und wie schnell der Service funktioniert, wenn es wirklich viele Gäste hat. Nur auf ein Glas Wein. Zur Sicherheit werden wir eine Feldflasche mit Wasser mitnehmen.

PS. Die Dialoge sind nicht übersetzt aus dem Italienischen. Der Kellner spricht alle erst mal hochdeutsch an und Herr Himmelsbach spricht Basler Dialekt. Der sprachliche Aspekt der Kommunikation wäre also „intakt“. Auch für die anderen Gäste…

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