Einkaufskorb, Fremde Orte
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Zu spät – zu früh – gerade richtig

Ein wunderbarer Altweibersommertag; die Sonne weckt uns. Sie kitzelt, leicht drängend, fein über das Gesicht. An diesem Mittwoch frühstücken wir gemütlich mit unseren Freunden und beschliessen, nach eingehendem Studium der Karte, ins Maggiatal vorzudringen und dann das Dorf Bosco Gurin zu besuchen.

Die Geschichte der Walser hat mich schon früh fasziniert; aber ich war als Teenager das letzte Mal in Bosco Gurin. Leider habe ich überhaupt keine Erinnerung mehr daran. Diese Lücke muss geschlossen werden. Zumal es in Bosco Gurin zwar kein erwähnenswertes Restaurant gäbe, aber ein Pro Specie rara – Gemüsegarten beim Dorfmuseum.

Einmal mehr staune ich, als wir nach Ponte Brolla ins Maggiatal vordringen – weit und grosszügig ist das Maggia-Flussbett und ich stelle mir vor, wieviele Leute im Hochsommer hier Sonne und Wasser geniessen…. Über neun steile Haarnadelkurven und durch goldgrün leuchtende Kastanienwälder fahren wir hoch zum Valle di Bosco.

Hier hat auf den Strassen jemand anders das Sagen

Hier hat auf den Strassen jemand anders das Sagen

Die frische Luft ist merklich kühler, als wir aus dem Auto steigen, um das Dorf zu „erobern“. Die Sonne scheint aber immer noch und sofort sind wir der Überzeugung, dass man einen Rundgang durch das Dorf nur beenden kann, wenn man am Schluss, auf einer Sonnenterrasse eine heisse Schokolade oder eine Latte Macchiato trinken wird. Aber zuerst geniessen wir mal den Rundgang durch das Dorf:

Kartoffeln trocknen

Kartoffeln trocknen – hier hat es noch genügend Platz

Zu spät!
Walser-Dorfmuseum

Walser-Dorfmuseum

Das Dorfmuseum „Walserhaus“ ist ein Besuch wert! Wir kommen mit der „Museumshüterin“, wie sie sich selber nennt, ins Gespräch und erfahren viel über die aktuelle Lage der Bevölkerung, die Gebräuche, den Jahresverlauf und die Herausforderungen des kleinen Dorfes. Ich erkundige mich nach den kulinarischen Spezialitäten, evtl. gibt es ja ein Kochbüchlein oder einen speziellen Anlass?
Natürlich! Üblicherweise ist dies die Woche der „Måtzufåmm“; sieben Tage lang wird diese Guriner Gemüsesuppe hoch gefeiert. Aber ausgerechnet in diesem Jahr wurde der Termin um eine Woche vorverschoben, weil ein Walser-Treffen ansteht. Leider, leider sind wir zu spät! Tja, da kann man nichts machen – ausser den Gemüsegarten bewundern:

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Höhentauglicher, bunter Mangold

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…wo sind jetzt bloss meine Notizen geblieben?

Alles Gemüse und Kräuter, die hier auf 1500 m ü.M. noch gedeihen und mittels derer die Guriner doch noch über die harten Winter kamen (beeindruckt hat mich der Umstand, dass früher nur vier Mal im Jahr Brot gebacken wurde…). Roggen und Gerste wiegen sich trutzig im Wind und goldener und roter Mangold wetteifern mit Kräutern und wunderschön blühendem Schlafmohn um den ersten Rang punkto Farbe.

Leider öffnet die Bäckerei heute ausnahmsweise erst viel später als sonst und so müssen wir unverrichteter Dinge Richtung Sonnenterrasse ziehen. Die Osteria delle Alpi bietet sich an… Der lauwarme Apfelkuchen ist wirklich ein Gedicht: Geraspelte Äpfel auf einem feinen Biskuitteig, das Ganze ca 8 cm hoch und natürlich mit besonders figurfreundlichem Schlagrahm versehen… Aber mit Sonne im Gesicht versinkt das schlechte Gewissen gleich im Latte Macchiato.

Zu früh!

Auf der Rückreise wollen wir einen Zwischenhalt bei der Macelleria der Gebrüder Boris und Franco Zanoli in Gordevio einlegen, um eine Cicitt zu kaufen. Pietro Zanoli – „Ja ja, der sei verwandt“ grinst der einer der Brüder – hat über hundert Ziegen; geht im Sommer mit den Tieren auf die Alp, macht Ziegenkäse und im Herbst Ziegenwurst. Der Herbst hat angefangen und so hoffen wir, von eben dieser Ziegenwurst ein Exemplar ergattern zu können. Die „Urchuchi Tessin und Misox“ beschreibt diese Wurst mit folgenden Worten: „Eine Stinkwurst nenne sie die einen – für andere ist es schlicht die beste Bratwurst der Welt. Gemeint ist die Cicitt, eine Ziegenwurst, die es nur im Maggia- und im Verzascatal gibt, eine echte Rarität im kulinarischen Erbe des Tessins.“

Leider, leider seien wir zu früh dran, verrät uns Herr Zanoli. Die Wurst gibt es erst ab Mitte Oktober und nur bis Mitte, manchmal Ende November. Wir erkundigen uns nach anderen Ziegenspezialitäten…. Leider, leider… etwas zu früh, aaaaber natürlich einen feinen Alpziegen-käse von Pietro Zanoli. Wir lassen uns überzeugen und fragen dann noch nach den anderen Spezialitäten des Hauses: „Natürlich das Pferdetrockenfleisch, diverse Salame und eine hausgemachte Mortadella“ und stolz zeigt er auf die kleine, aber feine Auslage. Wir entscheiden uns für einige Scheiben Mortadella – eine wahrlich gute, wenn auch nicht weise, Entscheidung. Denn wir hätten ruhig eine ganze mitnehmen sollen.

Gerade richtig!

Diese urchige gekochte Riesenwurst hier ist umwerfend – kräftig im Geschmack und natürlich nicht wirklich leicht, aber dafür ideal zum Kastanien- oder Valle Maggia-Brot, also etwas für’s Picknick.

Mortadella di fegato – eine verkannte Tessiner Spezialität

Mit der Bologneser Riesenmortadella hat sie gar nichts zu tun. Sie ist handlicher, von unregel-mässiger und knorriger Form. Meist von Schimmelpilz überzogen. Im Innern ist sie fett und grobkörnig – der Tessiner nennt das nostrano. Die Mortadella ticinese ist eine gelagerte Rohwurst wie die Salami, und wer sie das erste Mal auf einem Teller Affettato misto erspäht, wird sie leicht mit dieser verwechseln. Allerdings nur bis zum ersten Bissen – bis die Wurst mit ihrem unvergleichlichen Geschmack nach Leber, Gewürzen und Knoblauch ihr einzigartiges Wesen offenbart.
Bei der Mortadella zeige sich, was ein Metzger könne, so heisst es in den Tessiner Bergtälern. Und nur aus glücklichen Schweinen wird eine echte Tessiner Mortadella werden. Wenn aus dem Schwein Coppa, Salami, Pancetta, Lardo, Prosciutto und Luganighe produziert worden ist, bleibt nicht allzu viel übrig. Aber für eine feine Mortadella ist es immer noch genug. Sie besteht aus den kleineren Fleischabschnitten, Speck und Fett. Hinzu kommen noch die Leber, der Wein, der Knoblauch, Gewürze wie Pfeffer, Nelken, Lorbeer, Zimt und Muskatnuss. Ein seriöser Metzger braucht bei festem Alpschweinefleisch etwas Zucker anstelle von Pökelsalz.

Viel Geduld

Und im Gegensatz zu den Industrieprodukten, die bereits nach zwei Wochen konsumfertig sind, will sie langsam reifen. Eine traditionell hergestellte Mortadella ist Natur pur, das braucht Geduld und Zeit. Richtig gelagert wird sie in einem Naturkeller mindestens drei, idealerweise sechs Monate. Dann ist sie geschmacklich auf dem Höhepunkt. Sie wäre auch nach eineinhalb Jahren noch ein Hochgenuss, aber so alt kann sie gar nicht werden – dafür ist sie zu beliebt.

Maccelleria Valmaggese
Boris und Franco Zanoli
6672 Gordevio
091 753 10 47

Nachtrag:
Bis Mitte Oktober habe ich noch kein Rezept für die Måtzufåmm“ gefunden! Ist vielleicht in der Bloggerwelt ein Mensch mit Rezept?

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